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Konzeptionelle Aspekte systemdynamischer Modellbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Horst Schecker


 4. Kriterien der Angemessenheit systemdynamischer Verfahren

Als Orientierungshilfen für die Angemessenheit der systemdynamischen Betrachtungsweise können nach den im Modellversuch FEST gemachten Erfahrungen folgende Kriterien dienen:

Der systemdynamische Ansatz ist zur Unterstützung von Lehr-/Lernprozessen angemessen, wenn ...

> inhaltlich, fachbezogen ...

... das Phänomen über ein System von Differentialgleichungen beschrieben werden kann. Dies gilt z.B. für viele physikalische Grundstrukturen (Bewegungsvorgänge, ..., Zerfallsreihen).

... das System fachwissenschaftlich formalisierbar und quantifizierbar ist, es jedoch aufgrund mathematischer Komplexität bisher in der Schule nicht quantitativ beschrieben wird. Das gilt in der Chemie z.B. für die Dynamik von Gleichgewichtsreaktionen. Generell ist mit diesem Punkt die stärkere Einbeziehung realer technischer oder natürlicher Phänomene gemeint.

... das System fachwissenschaftlich nur begrenzt formalisierbar und exakt vorhersagbar ist, sich jedoch wichtige Grundstrukturen seines qualitativen Verhaltens modellieren lassen. Dies gilt z.B. für Ökosysteme (Räuber-Beute-Ketten, Biotope).

> unterrichtsmethodisch ...

... Schüler die Konstruktion der Modellstruktur aktiv mitgestalten können und ihnen Gelegenheit gegeben wird, eigene Vorschläge einzubringen und umzusetzen. Dies ist besonders in Gruppenarbeit gegeben, aber auch im Klassenunterricht möglich.

Der systemdynamische Ansatz ist zur Unterstützung von Lehr-/Lernprozessen nicht angemessen, wenn ...

> unterrichtsmethodisch ...

... die Schüler die Modellstruktur selbst oder den Prozess ihrer Formulierung nicht zumindest prinzipiell nachvollziehen können. Sehr komplexe Modelle, wie sie in der Biologie z.B. notwendig sind, um das Phänomen "Waldsterben" quantitativ zu erfassen, können von den Schülern nicht eigenständig formuliert werden. Wenn der Lehrer solche Modelle in den Unterricht einbringen will, muss er sicherstellen, dass die Schüler die Erläuterung der Grundmuster der Modellstruktur aufgrund eigener Modellierungserfahrungen an einfacheren Systemen nachvollziehen können. Anderenfalls kann ebensogut auf reine Simulationsprogramme mit verdeckter Modellstruktur zurückgegriffen werden.

... keine Vergleichsdaten aus eigenen Recherchen (z.B. Experimenten) oder aus der Literatur zur Verfügung stehen, um die fachliche Angemessenheit eines Modells und seiner Prognosen überprüfen zu können. In solchen Fällen sind das Modell und seine Vorhersagen rein spekulativ.

> inhaltlich, fachbezogen ...

... die systemdynamische Herangehensweise im Widerspruch zum fachwissenschaftlichen Methodeninventar steht (vgl. das Hamlet-Modell).

... das System zwar formalisierbar erscheint, jedoch die konkrete Kenntnis der Systemparameter für eine Quantifizierung nicht ausreicht, bzw. willkürlich erscheint, selbst wenn man sich auf qualitative Grundstrukturen des Systemverhaltens beschränken möchte. Diese Gefahr besteht z.B. bei dem Versuch, ein Epidemie-Modell für AIDS mit dem Anspruch auf Realitätsbezug zu entwickeln.

... eine Formalisierung und Quantifizierung zwar möglich ist, die damit gewonnene Prognosefähigkeit jedoch nur mit einer großen Komplexitätsreduktion erkauft werden kann, so dass der Bezug zum realen Ausgangs-System verlorengeht. Dieser Gefahr muss man sich bei Öko-Systemen bewusst sein.

Bereits der erste Spiegelstrich der Positiv-Liste deutet an, dass ein Fach wie Physik wegen des großen Anteils mathematisch-analytischer Methoden bei der Erkenntnisgewinnung stärker von der Verfügbarkeit von Modellbildungssystemen in der Schule profitiert als etwa die Biologie. Ein Problem des Physikunterrichts - die starke Mathematisierung - erweist sich unter dem Aspekt der Verfügbarkeit von Modellbildungssystemen plötzlich als ein Vorteil: Modellbildungssysteme sind geradezu dazu prädestiniert, Beschränkungen der Komplexität von Phänomenbetrachtungen, die aus der Mathematik herrühren, abzubauen. Komplexitätsschranken in der Chemie und insbesondere der Biologie erwachsen dagegen weniger aus mathematischen Gründen, sondern eher aus einer nicht mehr handhabbaren Anzahl von Systemgrößen und Wechselwirkungen. Biologische Systeme müssen eher in ihrer Komplexität reduziert werden, um sie sinnvoll mit Modellbildungssystemen behandeln zu können. Allerdings gewinnt man durch die Komplexitätsreduktion die Fähigkeit zu quantitativen Prognosen. Durch Entfernung von der Realität gewinnt man Prognosefähigkeit. Ob dies eher als ein Gewinn oder ein Rückschritt zu werten ist, müssen am konkreten Anwendungsbeispiel unter fachdidaktischen Gesichtspunkten getroffen werden. Dabei sind unterschiedliche Wertungen möglich. Je nach Zielsetzung des Unterrichts kann bei der Modellierung eines Ökosystems mehr Wert auf das Herausarbeiten von Grundstrukturen (z.B. Lotka-Volterra Gesetze) oder auf den Bezug zu einem konkreten Ökosystem gelegt werden.


© 1997 DIFF Updated: Mai, 1997